Immer wieder begegnen sie uns, die Detektive in Film und Fernsehen – zuletzt wieder einmal in Person von Sherlock Holmes in der BBC-Serie „Sherlock“. Dort entschlüsselt der exzentrische Detektiv die Rätsel des Verbrechens, fördert dunkle Machenschaften zutage und stellt so die Ordnung der Dinge im modernen London wieder her. Dabei verrät uns Sherlock Holmes aber noch etwas mehr als nur die Identität des Mörders: Dass es Figuren wie ihn überhaupt gibt, weist auf eine gesellschaftliche Verwissenschaftlichung und Rationalisierung hin, die auch vor der Moral nicht Halt macht.
Wird eine (Gesetzes-)Grenze überschritten, dann geraten damit die geordneten Verhältnisse unserer alltäglichen Lebenswelt aus den Fugen, ein Mord stellt eine Art „Krise“ unserer sozialen Ordnung dar. Früher noch wäre das, so Michel Foucault, ein Fall für Moral und Recht gewesen – heute hingegen mischt sich immer mehr die Wissenschaft ein und genau damit erhält der Detektiv unser Vertrauen. Der aber ist selbst eine ambivalente Figur: Er ist der Retter in der Not, eben weil er denken kann wie ein wahnsinniger Mörder.
Sherlock etwa ist, das merkt man schnell, alles andere als ein klassischer Polizist. Darin ist er vielen seiner bekannten detektivischen Vorgänger in der Filmgeschichte ähnlich: Betrachtet man etwa Ichobad Crane in „Sleepy Hollow“ oder William von Baskerville in „Der Name der Rose“, sieht man, dass Detektiven immer etwas Unangepasstes und Außergewöhnliches eigen ist. Oft werden sie – das zeigen die beiden Beispiele – von der Polizei, Betroffenen und der Öffentlichkeit eher als Eindringlinge wahrgenommen.
Zwischen Genie und Wahnsinn
So auch bei Sherlock: Schon in der ersten Folge wird er am Tatort von den Polizisten gemieden. Sie misstrauen dem exzentrischen Detektiv, da ihn verzwickte Verbrechensrätsel begeistern, wo Abscheu die „normale“ Reaktion auf einen Mord wäre. Diese wissenschaftliche Neugier lässt Sherlock wie einen Wahnsinnigen wirken – die anderen nennen ihn einen Psychopathen. Sherlock selbst aber stört daran lediglich, dass diese Aussage objektiv falsch ist, wie seine Antwort zeigt: „Ich bin kein Psychopath, ich bin ein hochfunktionaler Soziopath, recherchieren Sie mal!“ So sehr er von anderen auch als Wahnsinniger wahrgenommen wird, sind die Menschen – und vor allem die ständige überforderte Polizei – aufgrund der Macht seines besonderen Wissens doch auf ihn angewiesen.
Dabei funktioniert die Figur Sherlocks wie ein Aufklärer, der den „bäuerlichen Polizisten“ mit seinem besonderen Wissen zu Hilfe kommt und ihnen die Augen öffnet. Sein Blick ist genauer und schon kleinste Indizien gelten ihm als Hinweise auf eine tiefere und verborgene Realität, die er dank seiner intellektuellen Überlegenheit stets als erster aufdeckt. So sieht es auch Sherlocks Bruder, Mycroft Holmes: „Mein Bruder hat den Verstand eines Wissenschaftlers oder Philosophen, doch er hat sich entschieden, lieber Detektiv zu werden.“ Das Bild vom Wahnsinnigen verbindet sich also mit dem des Genies: Seine Fähigkeiten erinnern mehr an einen überlegenen Wissenschaftler als an den normalen Ermittler in Uniform
Ermittlung im Reagenzglas
In der dritten Staffel erfährt man dann, dass Sherlock ein Diplomchemiker, also tatsächlich ein Wissenschaftler ist. Das drückt sich entsprechend in seinen Arbeitsmethoden aus: Ihm zufolge darf die Welt, die wir alle kennen, nicht für bare Münze genommen werden – es gilt stattdessen die Realität hinter der Realität aufzudecken. Sein wissenschaftliches Wissen bringt Sherlock zum Einsatz, wenn er in seiner Küche oder dem „Labor der Pathologie“ mit Reagenzgläsern, Mikroskopen und manchmal sogar menschlichen Einzelteilen experimentiert. Mit einem analytischen Blick rekonstruiert er dort jedes Element eines Falls, um anschließend den Fall zu lösen.
Es sind aber nicht ausschließlich die Laborutensilien, die den neuen Sherlock beispielsweise von den Verfilmungen von 1983 unterscheiden, in denen Ian Richardson als Holmes noch hauptsächlich unter Zuhilfenahme seiner Lupe ermittelt. Im London des 21. Jahrhunderts verfügt er über SMS, GPS und Internet – und betreibt nicht zuletzt einen eigenen Blog. Dort stellt er seine Methode, die „Wissenschaft der Deduktion“, und sich selbst als „weltweit einzigen Consulting Detective“ vor. Diese Präsentation des Kriminalisten ist Sinnbild dafür, dass die Bedeutung von Beratung und Analytik auf der Grundlage von wissenschaftlicher Objektivität heute stetig zunimmt.
In science we trust
So kann man in der Figur Sherlock und ihrer Arbeitsweise eine Tendenz zur Rationalisierung bzw. „Entzauberung der Welt“ (eine Diagnose des großen Soziologen Max Weber) erkennen: Wissenschaftliches Wissen wird in immer mehr Tätigkeitsfeldern und gesellschaftlichen Bereichen bedeutsam – unter anderem eben auch in der Kriminalistik. Foucault würde sagen, dass in unserer gegenwärtigen Zeit der „Willen zum Wissen“ immer drängender wird. Daher rührt die Aufwertung der Figur Sherlocks: Dem genialen Detektiv wird trotz aller scheinbaren Eigenarten gesellschaftliches Ansehen zuteil – weil er wissenschaftlich ganz auf der Höhe ist. Wenn also die Realität vor unseren Augen aus den Fugen zu geraten scheint, vertrauen wir in diejenigen, die wissenschaftliche Objektivität verkörpern und erwarten, dass sie es sind, die den Weg zurück in geordnete Verhältnisse weisen.
Von: Maximilian Thieme
Image source: www.bbc.co.uk