Emmanuel Macron ist neuer französischer Präsident. Während man sich nach der Abstimmung in den USA im kollektiven „Trump-Schock“ befand, atmet das liberale Europa diesmal auf. Darüber hinaus zeigt der Wahlausgang aber vor allem eins: Politik ist gegenwärtig „in Bewegung“ und das nicht nur in Frankreich. Dabei scheint der Protest die zentrale politische Waffe der Stunde zu sein.
Warum der Rechtsruck?
Der Front National hat es schon des Öfteren auf über 10% gebracht. Die gut 21% im ersten Wahlgang der diesjährigen Präsidentschaftswahl übertreffen die vorherigen Erfolge aber noch bei Weitem. Doch warum haben so viele Franzosen rechts gewählt? Und weshalb haben die etablierten Lager so deutlich verloren? Eine Erklärung liefert der Soziologe Didier Eribon in seiner autobiographischen Sozialstudie Rückkehr nach Reims – ein Buch, das schon 2009 in Frankreich erschien und dessen Übersetzung im letzten Jahr hierzulande einiges an Aufmerksamkeit erregte.
Laut Eribon sind die Probleme der Linken in Frankreich und der Aufstieg des Front National eng miteinander verbunden. Ursache beider Phänomene sei eine Politik der Mitte, die in den letzten Jahrzenten überall in Europa auch von linken Parteien getragen wurde. Die zunehmend abgehängte Arbeiterschaft, so Eribon, sieht sich von der Linken verraten und wende sich der Rechten zu. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von einer „politischen Notwehr der unteren Schichten“, die ihr „Klassenbewusstsein“ für eine nationale bzw. nationalistische Identität aufgeben.
Protest statt Repräsentation: Haben Parteien ausgedient?
In Grundzügen erinnert dies an das Bild des „abgehängten weißen Mannes“ und damit an den Wahlsiegs Donald Trumps – auch wenn in den USA keine so klare Verbindung zwischen Arbeiterschaft und Politik existiert. Der Blick dorthin ist aber noch aus einem anderen Grund interessant: Er macht deutlich, dass im Kontext der sinkenden Identifikation mit etablierten Parteien auch ein anderer Politikstil entsteht. Trump hat im Wahlkampf vor allem als Stimme des einfachen Mannes gegen das „Establishment“ gewettert – und selbst die eigene Partei war nicht vor ihm sicher.
Partizipation statt Repräsentation: So oder so ähnlich lässt sich die Grundformel dieser Strategie fassen. Der Protest, den der Soziologe Niklas Luhmann außerhalb eines stabilen politischen Systems verortet, scheint in Zeiten der Forderung nach „direkter Demokratie“ seinen Weg in die Institution hinein zu finden. Erscheinungsform des Protests ist dabei die soziale Bewegung, eine Gruppe, die anstatt aus loyalen Mitgliedern aus begeisterten Anhängern besteht. Wir erinnern uns: Mit einer solchen Bewegung im Rücken hatte der zu Beginn als völlig chancenlos gehandelte Bernie Sanders Hillary Clinton in den Vorwahlen beinahe besiegt.
Zurück nach Frankreich: Die großen Volksparteien sind erst einmal von der Bildfläche verschwunden. In der Stichwahl stand der radikalen Rechten eine Partei gegenüber, die sich selbst als „Bewegung“ inszeniert. „En Marche!“ nennt man sich, „Vorwärts“ soll es also gehen. Der Aufstieg von Macron und En Marche ist ebenfalls ein Zeichen dafür, dass die Identifikation mit etablierten politischen Kräften nicht mehr funktioniert. Besonders bitter ist das für die Linke, die ihre symbolische Stärke seit jeher aus der Symbolisierung des andauernden Arbeitskampfs zieht.
Und nun: Alles empört sich
Während Marine Le Pen den Blick nach hinten richtet und ein verklärtes Bild einer geschlossenen Gemeinschaft echter Nachkriegsfranzosen zeichnet, präsentiert sich der Wahlsieger Macron als progressiver Vertreter der „offenen Gesellschaft“. Für den kritischen Beobachter Eribon ist jedoch klar, dass En Marche für ein wirtschaftsliberales Programm steht, durch das sich die sozialen Verwerfungen in den nächsten Jahren nur noch weiter zuspitzen werde. Bereits vor einigen Wochen hat er daher durch folgende Aussage provoziert: „Wer Macron wählt, wählt Le Pen.“
Die Frage, die sich angesichts all dieser Empörung stellt: Ist die aktuelle Situation nicht auch eine Chance für die Linke? Besteht hier nicht die Möglichkeit, sich hinter dem Protest neu zu mobilisieren? Die öffentliche Resonanz, die Intellektuelle wie Eribon erfahren, lässt sich sicher nicht mit der Situation der 60er- bis 80er-Jahre vergleichen, in denen Denker wie Pierre Bourdieu und Michel Foucault Sprachrohr und Repräsentanten einer breiten linken Bewegung waren. Einige scheint die „soziale Frage“ nun aber doch wieder aus dem Elfenbeinturm hervorzulocken – mal sehen, ob sich dabei etwas bewegt.
Von: Alexander Hirschfeld
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