EIN INTERVIEW MIT DEM SOZIOLOGEN ALEXANDER HIRSCHFELD.
Was du hier erfährst:
- Was heißt eigentlich „postfaktisch“?
- Handelt es sich wirklich um ein neues Phänomen?
- Wie digital ist „postfaktisch“?
- Wer legt eigentlich fest, was Fakt ist?
Was heißt eigentlich „postfaktisch“?
Das Wort „postfaktisch“ ist auf jeden Fall in den Medien und der Öffentlichkeit zur Zeit sehr präsent und wurde ja auch von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gekürt. Was generell darunter verstanden wird, ist, dass Gefühle und eine gewisse Unsachlichkeit heutzutage Debatten dominieren würden. Damit in Verbindung steht auch eine neue Form von Populismus: nämlich, dass über Themen, über die bisher auf Basis von Fakten gesprochen wurde, heute auf eine unsachliche Weise gesprochen wird – so der Diskurs.
Nehmen wir das Beispiel Immigration: Anstatt zu betrachten, wie viele Leute wirklich nach Europa kommen, wird gefragt: Wer sind die überhaupt? Passen die zu uns? Und es werden abstruse Geschichten ausgepackt, in denen es heißt, ein syrischer Einwanderer würde acht Frauen und 60 Kinder nach Deutschland nachholen. Und egal, ob das wirklich stimmt – dass diese Geschichte die Debatte dominiert, ist ein Zeichen für das „Postfaktische“ in der Debatte. Weil sich alle nur auf diese eine Sache stürzen und ihren Emotionen und Gefühlsregungen freien Lauf lassen, ohne darüber zu sprechen, was eigentlich die Ursachen des Konflikts in Syrien sind, was Zuwanderung für unsere Gesellschaft in Bezug auf Recht, in Bezug auf soziale Integration bedeutet, usw.
Und „postfaktisch“ beschreibt eben gerade diesen angeblich neuen Zeitgeist, der auf Gefühlen und Unsachlichkeit basiert.
Aber es gibt doch schon seit jeher strategische Wahllügen, Beeinflussung durch Falschmeldungen. Was ist jetzt anders?
Die Antwort ist hier immer, dass die Medien und die Art, wie über Politik kommuniziert wird, heute andere sind. Wenn es um „postfaktisch“ geht, stehen die neuen, die sozialen Medien im Zentrum und es wird davon ausgegangen, dass es heute eine andere Form von Kommunikation gibt. Es gibt Kanäle, auf denen sich mehr oder weniger geschlossene Gruppen gegenseitig anstacheln.
Die allgemeine Idee von „postfaktisch“ sind Emotionen, die sich in Kommentarfunktionen hochschaukeln und die Einfluss auf Debatten nehmen.
Die Kommentarfunktion von Artikeln ist da ein sehr gutes Beispiel. Man nehme einen Artikel von einem Politiker, der beispielsweise sagt, wir als vermögende Gesellschaft sollten doch in der Lage sein, so und so viele Leute aufzunehmen, wenn es in einem anderen Land Krieg gibt – ein klassischer moralischer Appell. Darunter findet man dann Kommentare wie „Du Arsch!“, „Du Verräter!“, „Was machst du mit unserem Land?“
Ich denke, das ist ein typisches Beispiel dafür, was sich Leute unter „postfaktisch“ vorstellen: Emotionen, die sich in diesen Kommentarfunktionen hochschaukeln und die Einfluss auf Debatten nehmen. Dann gibt es außerdem politische Parteien – die AfD zum Beispiel –, die genau auf solche Arten der Thematisierung aufspringen und damit auch eine neue Form von Politik hervorbringen.
Das heißt, Fake-News, wie zum Beispiel „Papst unterstützt Trump im Wahlkampf“, können nur in einer digitalen Gesellschaft wie der heutigen entstehen.
Ja, Fake-News sind auch ein Teil des Themas. Also nicht nur, dass sich jeder in solchen Gruppen einbringen kann, sondern auch, dass es in den neuen Medien noch eine sehr hohe Unsicherheit gibt, was denn eigentlich richtig und was falsch ist. Klassischerweise hat man seine Information aus der Zeitung, aus Printmedien bezogen. Man wusste grob, welche politische Richtung eine gewisse Zeitung hat. Es gab Journalistinnen und Journalisten, die hatten eine bestimmte Ausbildung und daher auch ein Ansehen zu verlieren.
In den neuen Medien gibt es noch eine sehr hohe Unsicherheit, was denn eigentlich richtig und was falsch ist.
Im Netz hingegen ist alles diffuser, anonymer. Im Extremfall weiß man ja nicht mal mehr, ob hinter dem Gesagten eine echte Person steht – wenn man an die Trump-Wahl denkt, bei der viel über Roboter oder Bots gesprochen wurde, wusste man gar nicht, ob diese Kommentare überhaupt echt sind. Und es ist ja heutzutage relativ leicht möglich, Reaktionen, die in eine bestimmte Richtung lenken, schnell großflächig zu verbreiten.
Auch die Handlungen von Snowden und Assange haben, denke ich, die Vorstellung von einem Staat, dem wir vertrauen können, untergraben. Das hat natürlich Aussagen, die in alle möglichen Richtungen gehen, Tür und Tor geöffnet und eine Unsicherheit bezüglich der Institution Staat, ausgebildeten Journalistinnen und Journalisten, den bislang glaubwürdigen Medien etc. hervorgebracht bzw. verstärkt.
Betrachtet man den Begriff „postfaktisch“, muss man auch fragen: Wer bestimmt denn, was „faktisch“ ist?
Genau! Meiner Meinung nach muss man mit diesem Begriff vorsichtig sein, weil der politisch liberalere Teil der Bevölkerung damit die andere Seite als irrational bezeichnet. Dass das Wort zum Wort des Jahres bestimmt wurde, ist ja auch ein Zeichen dafür, dass die offiziellen Autoritäten da einstimmen. Sie sagen, es gibt eine große und wachsende Gruppe von Leuten, die ängstlich, populistisch und irrational sind und deshalb nennen wir das ganze Zeitalter mal postfaktisch.
In der ZEIT habe ich letztens einen Kommentar gelesen (Post-was? Fakt you!, Stefan Schmitt, Die ZEIT, 21.12.2016), in dem der Autor sagt, der Begriff „postfaktisch“ sei ja noch verharmlosend. Seiner Ansicht nach müsste es „antifaktisch“ heißen, also sogar „gegen die Fakten“.
Mit solchen Aussagen zeigen die politisch Liberalen, dass sie diejenigen sind, die die Wahrheit im Besitz haben und die anderen sind die, die nicht über diese Wahrheit verfügen. Genau da muss man aufpassen. Weil es trotz aller Fake-News einfach verschiedene Perspektiven zu den momentan sehr breit diskutierten und problematischen Themen gibt.
Diese Leute, die wir als Teil dieser Gefühls-Populismus-Gruppe sehen, sind selbst nämlich sehr wohl der Meinung, dass sie über Wahrheit, über Rationalität argumentieren. Und sehr viele von denen kennen ja beispielsweise die Zahlen im Zusammenhang mit Migration sehr genau. Da gibt es auch Formen von Intellektualität – das ist dann eben konservative oder rechte Intellektualität, aber die darf man, denke ich, nicht unterschätzen. Man sollte sie meiner Meinung nach nicht gutheißen, aber man muss einfach sehen, dass auch da der Anspruch auf Wahrheit formuliert wird.
Alle glauben aber eben, die Wahrheit auf ihrer Seite und deswegen die richtige politische Einstellung zu haben.
Daher ist der Begriff „postfaktisch“ für mich auch irritierend, weil die andere Seite genauso glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein. Deshalb sind die Debatten auch insgesamt so emotional. Und es sind nicht nur die anderen so emotional, sondern wir politisch Liberale sind es ebenfalls. Wenn Trump gewählt wird, dann ist das ganze liberale Europa auf 180, dann sind wir alle sehr bewegt. Und umgekehrt, wenn Merkel die Willkommenskultur propagiert, dann ist das konservative Lager aufgebracht und macht seinem Ärger Luft. Alle glauben aber eben, die Wahrheit auf ihrer Seite und deswegen die richtige politische Einstellung zu haben. Diese Konstellation darf man nicht aus den Augen verlieren, indem man das Thema nur vom eigenen Standpunkt aus betrachtet.
Photo credit: Gage Skidmore via Visual hunt / CC BY-SA