Diskurs mit Foucault

Interview mit dem Soziologen Alexander Hirschfeld.

Was sich wie ein rein wissenschaftliches Thema anhört, ist ganz im Gegenteil auch für die Allgemeinheit, den nichtwissenschaftlichen Teil der Gesellschaft, wichtig und interessant. In dem Artikel findest du Folgendes heraus:

  • Wissen wir eigentlich, was Diskurs ist?
  • Wie strukturiert der Diskurs unser aller Denken und Handeln?
  • Warum ist die Diskursanalyse auch in unserem täglichen Leben relevant?
  • Wie können wir sie jeden Tag einsetzen?

Warum ist das Thema Diskurs überhaupt relevant, warum so besonders spannend für dich und wie hängt es mit der Soziologie bzw. Michel Foucault zusammen?

Ganz wichtig, wenn man über Diskurs mit Bezug auf Foucault spricht, ist die Abgrenzung des Begriffs von dem, was man im Alltag darunter versteht. Da ist nämlich meist das Sprechen oder kontroverse Diskutieren über ein Thema gemeint. Man sagt, man „bräuchte einen Diskurs über etwas“. Darum geht es bei Foucault aber gerade nicht.

Es geht bei der Diskursanalyse als Methode darum, herauszuarbeiten, wie bestimmtes Wissen oder eine bestimmte Wahrheit zustande kommt. Wie wird die Wahrheit gesellschaftlich produziert? Und das ist Michel Foucaults klassisches Thema, das auch mit der Frage der Macht zusammenhängt.

Die zentrale Annahme, die hinter dieser Perspektive steht, ist, dass es nicht die eine Wahrheit gibt. Es existieren in jeder historischen Epoche – und auch abhängig von den sozialen Kontexten – unterschiedliche Wahrheiten; z.B. gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was den Menschen ausmacht, was er kann, was er tun muss usw. Wenn es z.B. heißt, dass Kinder gewalttätig werden, wenn sie Gewalt sehen oder erfahren, dann geht man von einem lernenden Individuum aus. Argumentiert man stattdessen, dass Kinder ihre Aggressionen regelmäßig loswerden müssen, dann versteht man Gewalt als eine Art natürlichen Bestandteil des Menschen. Diese und ähnliche Wahrheiten versucht man, in der Diskursanalyse herauszuarbeiten.

Ist Diskurs also die Kommunikation über ein bestimmtes Thema?

Im Anschluss an das vorherige Beispiel würde ich sagen, Diskurs ist mehr als die Kommunikation über ein bestimmtes Thema. Diskurs ist die Struktur, die dahinterliegt. Zum Beispiel wird das Thema Migration auf bestimmte Arten und Weisen thematisiert. Wenn gefragt wird: „Was kosten uns Geflüchtete?“, wird ein ökonomischer Diskurs über das Thema geführt. Wenn gefragt wird: „Passen die zu uns?“, wird ein nationaler, kultureller oder sogar völkischer Diskurs geführt.

Diskurs ist die dahinterliegende Struktur, die Aussagen – wie „Die passen nicht zu uns.“ – hervorbringt und ordnet.

Und Foucault hat den Begriff des Diskurses entwickelt oder erfunden?

Erfunden nicht, aber er hat ihn für die Sozialwissenschaft fruchtbar gemacht. Er hat gesagt, Diskurse und das durch sie produzierte Wissen sind an bestimmte soziale Entstehungsbedingungen gebunden. So kann man den Diskurs selbst als ein soziales Phänomen verstehen, weil er einschränkt: a) was wir überhaupt denken können, b) wie wir etwas wahrnehmen und c) dadurch maßgeblich beeinflusst, wie wir handeln.

Und weil der Diskurs gesellschaftliche Institutionen und soziales Handeln strukturiert, ist das ein zentrales Thema für die Sozialwissenschaften.

Wie kann man sich die Diskursanalyse konkret vorstellen?

Foucault ist nicht einfach zu lesen, aber es gibt eine Stelle in der „Archäologie des Wissens“, die ist sehr einprägsam und hilfreich. Da sagt Foucault, in der Diskursanalyse geht es um die Frage, warum eine spezifische Aussage – und keine andere – an einer spezifischen Stelle überhaupt möglich und entstanden ist. Und genau das ist es, was man in einer Diskursanalyse untersucht.

Um nochmal an die Beispiele der Geflüchteten anzuknüpfen – „Was kosten uns die?“ oder „Die passen nicht zu uns.“ – da muss man fragen: Warum sind diese Äußerungen überhaupt möglich? Welche Vorstellungen über den Menschen, über die Gesellschaft stecken denn eigentlich dahinter? Man muss von diesen Statements ausgehen und sich ansehen, was in dem Zeitungsartikel noch so vorkommt, beispielsweise der Verweis auf Religion, andersartige Bräuche. Und wenn man diese unterschiedlichen Äußerungen analysiert, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wie der Diskurs strukturiert ist. In diesem Beispiel erkennt man, dass eine Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚den anderen‘ getroffen wird.

Man begreift das, was gesagt wird, also nicht als eine einmalige Äußerung, die zufällig ist, sondern als sozialtypische Aussage und man versucht, erstens sie im Rahmen der Diskursanalyse zu typisieren und zweitens die Verbindungen zu anderen Aussagen herauszuarbeiten. Im Beispiel der Geflüchteten wird die Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚den anderen‘ mit dem Begriff der Kosten verbunden.

Und was man da eigentlich macht, kann man sich so vorstellen: Man nimmt einen Text, markiert ihn sich mit verschiedenen Farben, macht Notizen dazu, auch mithilfe von Computerprogrammen. Das funktioniert ähnlich wie man Interviews analysiert, wenn man typische Denk- und Handlungsweisen herausarbeiten möchte. In unserem Fall macht man das aber eben mit Texten.

Und so ist Foucault auch vorgegangen und hat die Diskursanalyse angewendet?

Naja, die große Kritik an ihm ist, dass er methodisch wahrscheinlich nicht so sauber vorgegangen ist. Aber im Grunde hat er wohl auch so gearbeitet.

Foucault war ja Altphilologe, er hat sich also meistens ältere Texte angesehen, aber wir können uns das schon so vorstellen, dass er seine Zeit in Archiven verbracht und solche Texte gewälzt hat. Und sich dann eher adhoc als systematisch Notizen darüber gemacht hat, was in diesen Texten eigentlich passiert: Was für eine Vorstellung und Denkweise transportieren sie?

Foucault schaut sich zum Beispiel in der „Ordnung der Dinge“ alte Texte aus China an: Bei der Einteilung der Tiere gibt es da eine Kategorie, die heißt „Tiere, die dem Kaiser gehören“. Das ist natürlich eine völlig andere Klassifikation als wir sie heute vornehmen. Und diese Klassifikation verweist auf eine bestimmte Gesellschaftsordnung: Sie hat also soziale Ursachen und Konsequenzen. Genau darum geht es in der Diskursanalyse.

Was macht Diskursanalyse heute besonders wichtig und attraktiv?

Relevant macht die Diskursanalyse vor allem, dass wir heute sehr stark von wissenschaftlichem Wissen – aber nicht nur von dem – geprägt sind und es Mediensysteme gibt, die dieses Wissen transportieren, reproduzieren und erweitern.

Deshalb umgeben uns diese symbolischen Welten, die man sich mit der Diskursanalyse anschaut, überall und strukturieren unser Denken und Handeln. Deswegen ist das ein zentraler Phänomenbereich der Gesellschaft, dem man sich mit einer passenden Methode nähern sollte – und da bietet sich die Diskursanalyse an.

Und warum ist es ein besonders interessantes methodisches Werkzeug?

Es hat den großen Vorteil, dass man schnell in die Empirie gehen kann. Wenn man z.B. Umfragen macht, muss man diese erst selbst erstellen, durchführen oder sich auf bestehende Daten stützen, die man bekommen und in die man sich einarbeiten muss.

Wenn man Interviews führt, muss man sich Zeit dafür nehmen und sie anschließend transkribieren. Aber es gibt eben schon Unmengen an sozialwissenschaftlich relevantem Material in Form von Texten, die analysiert werden können.

Aber sind diese Texte nicht in verschiedenste Richtungen deutbar?

Ja, das ist immer die Kritik an interpretativen Verfahren und ich würde sagen, diese Kritik kann man nie völlig entkräften. Man kann aber in der Arbeit angeben, auf Basis welcher Kriterien die Texte gedeutet wurden, und die Art und Weise, wie man die Analyse durchgeführt hat, offenlegen. Damit macht man sie für andere nachvollziehbar.

Eine weitere Möglichkeit ist, in Gruppen zu arbeiten und zu sehen, ob es intersubjektive Übereinstimmungen gibt.

Die Diskursanalyse in zwei Sätzen?

Die Diskursanalyse analysiert, wie  Wahrheiten sozial produziert werden. Diese Wahrheiten bilden den symbolischen Bezugsrahmen unserer Gesellschaft.

Kann denn auch der sozialwissenschaftliche Laie etwas mit der Diskursanalyse anfangen oder ist sie nur für den Wissenschaftsbereich interessant?

Ich würde sagen, dass der Laie damit sehr viel anfangen kann, wenn man beispielsweise nur an Marketing, PR oder an Politikberatung denkt, weil es in all diesen Feldern unglaublich wichtig ist zu wissen, wie in unserer Gesellschaft eigentlich gedacht und argumentiert wird.

Darüber hinaus ist die Diskursanalyse als eine Form von Aufklärung relevant, damit wir verstehen, in welchen Denkweisen wir gefangen sind. Wenn wir über Geflüchtete sprechen, ist es ja spannend zu sehen, dass wir immer wieder die gleichen Argumentationsstrategien hin- und herschieben. Mit der Diskursanalyse kann man diese aufdecken und fragen: Sollte man vielleicht Abstand von diesen Deutungen gewinnen, um auch einmal andere Blickwinkel zuzulassen.

Photo credit: Abode of Chaos via VisualHunt / CC BY

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